Die Zahl der Pendler in Deutschland bewegt sich auf Rekordniveau. Insbesondere in den Ballungsräumen stiegen die Zahlen in den vergangenen Jahren stark an. Pendelten im Jahr 2000 noch 53 Prozent aller Beschäftigten zur Arbeit, so waren es in 2019 bereits 60 Prozent. Die durchschnittliche Streckenlänge stieg von 14,6 auf 16,8 Kilometer, und auch der Zeitaufwand nimmt kontinuierlich zu. Eine neue Auswertung zeigt, rund jeder dritte Arbeitnehmer benötigt zwischen 15 bis 29 Minuten Pendelzeit, knapp jeder fünfte sogar bis zu einer Stunde.[1]
Die Gründe für die Entwicklung sind bekannt. Wohnen und arbeiten, einst eng miteinander verbunden, sind in den vergangenen Jahrzehnten durch eine tiefgreifende Funktionstrennung immer weiter auseinandergerückt. Der Wunsch nach einem Eigenheim kann immer häufiger nur in ländlichen Gebieten realisiert werden, ebenso verhält es sich mit preiswertem Wohnraum. Das Arbeiten findet jedoch nach wie vor vornehmlich in den Ballungsräumen statt. Die bisher obligatorische Schlussfolgerung: Pendeln.
Spätestens seit der Corona-Pandemie hat sich jedoch gezeigt, dass der klassische Arbeitsplatz im Büro des Arbeitgebers nicht mehr unanfechtbar ist. Unter dem Einfluss der Corona-Pandemie ist das Homeoffice vielerorts zur Norm geworden, Videokonferenzen und digitale Tagungen ersetzen Präsenzveranstaltungen. Jedoch ließ sich bereits vor Corona ein Wandel in der Arbeitswelt ausmachen, ausgelöst durch die Digitalisierung. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt und neue Arbeitsplatzmodelle ermöglichen Mitarbeitern, die Arbeit zunehmend flexibler zu gestalten, sowohl was die Arbeitszeit als auch den -ort angeht. Selbstständige und Freelancer leben es vor: Gearbeitet wird da, wo eine ordentliche Internetverbindung vorhanden ist und der Laptop Platz hat.
Wie werden die Arbeitswelt und das Wohnen nach Corona aussehen? Spekulative Antworten darauf gibt es viele und doch ist es die Ungewissheit, die uns einen möglichen Gestaltungsspielraum aufzeigt:
Wohnungsmärkte zwischen Stadt und Land nähern sich an
In einer Zeit in der das städtische Lebensgefühl in den Kernstädten zum Erliegen gekommen ist und sich die Wahrnehmung von Pendeldistanzen durch neue Home-Office Regelungen wandelt, wird das Umland von Großstädten und die Ränder von Ballungsgebieten als Wohnorte zunehmend attraktiver. Bereits vor der Corona Pandemie zeigten sich gestiegene Suburbanisierungstendenzen, realistisch erscheint jedoch, dass sich die Tendenzen, verstärkt durch die Pandemie, auch nach dieser weiter intensivieren werden. Denkbar ist zudem, dass sich diese Prozesse in die weiter entfernteren Umlandbereiche ausdehnen, eine gute verkehrliche (speziell ÖPNV-) Anbindung und infrastrukturelle Ausstattung vor Ort sowie schnelles Internet vorausgesetzt. Diese veränderten Wohnpräferenzen können zu einer Entlastung der Ballungszentren führen und sich als Chance für den ländlichen Raum darstellen.
Co-Working als Antwort auf den veränderten Wohnflächenbedarf
Dadurch, dass nicht mehr notwendigerweise aus dem Büro gearbeitet werden muss, ändern sich gegenwärtig auch die Anforderungen an Wohnraum. Besonders vor dem Hintergrund von Homeoffice und Homeschooling, kristallisiert sich in vielen Haushalten ein Bedarf an zusätzlicher Wohn- bzw. Arbeitsfläche heraus. Dies ist finanziell jedoch nicht für alle Haushalte tragbar, zumal bezahlbarer Wohnraum vielerorts nur begrenzt verfügbar ist. Im Sinne einer nachhaltigen Flächenpolitik ist der zusätzliche Flächenbedarf zweifelsohne nicht.
Eine Lösung für den zunehmenden individuellen Wohnflächenbedarf kann deshalb die Option Coworking darstellen. Richtete die ursprüngliche Idee des Coworking sich zunächst primär an Freiberufler, digitale Nomaden und Mitglieder von Start-up-Unternehmen, die von den flexibel nutzbaren Arbeitsplätzen profitierten, so wird heute mit einer Vielzahl an Coworking-Modellen eine deutlich breitere Zielgruppe angesprochen. Neben den großen, global agierenden Coworking-Ketten, existieren vermehrt auch kleinere Angebote, die oftmals auf alternativen Trägermodellen basieren, also beispielsweise genossenschaftlich organisiert sind.
Hier können ebenfalls Kommunen im Sinne eines kommunalen Coworkings und die Wohnungswirtschaft ansetzen und sich, insbesondere gegenüber privaten Kleinvermieter, positiv abheben, indem sie Sonderflächen einrichtet, die von den Mietern unter anderem als Arbeitsflächen genutzt werden können. Flächendeckende Digitalisierung und insbesondere eine Breitbandanbindung sind hier Grundvoraussetzung. Vorhandene, oft wenig genutzte Gemeinschaftsräume könnten als Coworking eine Belebung erfahren.
Reduzierung der Pendlerströme
Ebenso wie die Form diversifizieren sich auch die Standorte von Coworking Spaces. Zu Beginn waren Coworking-Angebote typischerweise im urbanen Umfeld – vornehmlich in Großstädten – zu finden, inzwischen siedeln sie sich auch in kleineren Städten und im ländlichen Raum an. Gerade im Einzugsbereich größerer Städte, die als typische Wohnorte für Pendler fungieren, können sie eine attraktive Alternative zum täglichen Pendeln darstellen und eine Reihe positiver Effekte mit sich bringen. Eine Sicherheit, dass der gewünschte Ansturm auf ländliche Coworking Spaces kommt, wie dies in Großstädten der Fall ist, gibt es im ländlichen Raum jedoch noch nicht. Neue Coworking Spaces müssen sich hier erst einmal etablieren. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass sich Pendlerströme in einem gewissen Umfang reduzieren lassen.
Funktionsstärkung der Innenstadtlagen von Klein- und Mittelstädten
Die Corona-Pandemie hat den ohnehin geschwächten Innenstädten einen weiteren Dämpfer gegeben. Besonders die Innenstädte von Klein- und Mittelstädten sind mehr denn je durch ein zunehmendes Aussterben des stationären Einzelhandels und Leerstände gekennzeichnet. Vielerorts wird daher zunehmend über Instrumente zur „Rettung der Innenstädte“ diskutiert. Doch wie könnte eine solche Rettung aussehen?
Indem wohnortnah bezahlbare Alternativen zum Homeoffice geschaffen werden, die gleichzeitig Möglichkeiten zur Vernetzung und des Austausches sowie Anknüpfungspunkte für weitere Nutzungen bieten, können dezentrale Coworking Spaces positive Impulse für die Regionalentwicklung liefern und die Funktion von Klein- und Mittelstädten als Wohn- und Arbeitsort nachhaltig stärken. Ein dezentraler Coworking Space als multifunktionaler Gemeinschaftsort könnte hier durch die Bündelung mit weiteren Einrichtungen der Daseinsvorsorge, wie etwa Gastronomie, Stadtteiltreff oder der Kinderbetreuung, kombiniert werden. Coworking Spaces können auch eine Zwischen- und Nachnutzungsoption für leerstehende Gewerbeflächen sein. Sie bilden damit die Ausgangspunkte für eine neue Ausrichtung der Innenstadt hin zu mehr kommunikativen, soziokulturellen Angeboten und weg von der rein kommerzialisierten Nutzung.
Im Zuge der Restriktionen zur Eindämmung der Pandemie sind die Menschen in besonderem Maße mit ihrer Wohnsituation konfrontiert. Die eigene Wohnung hat an Bedeutung gewonnen. Die Wohnwünsche verändern sich, Wohnungsmerkmale wie Balkon, Garten, Arbeitszimmer oder allgemein ein Mehr an Fläche rücken vermehrt ins Blickfeld der Interessenten. Mit dem gestiegenen Stellenwert des Wohnens und der Veränderung der Arbeitswelt, entstehen Potenziale, die Stadt- und Quartiersentwicklung sowie den Wohnungsmarkt nachhaltig zu gestalten. Angesprochen sind sowohl die Bewohner selbst, als auch Wohnungsunternehmen sowie -genossenschaften, Kommunen und die Privatwirtschaft.
[1] Statista Global Consumer Survey 2020
Autorin: Co-Autorin:
Lena Bruce Maite Schiffler
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